Der Geburtstagspate

Alicia hat Geburtstag. Sie ist noch jung. Zwar über zwanzig Jahre schon aber selbst und ständig, so viel wir wissen ungebunden. Welche Bindungen sie sich vorstellen kann und worauf sie sich einlassen würde, ob sie heiraten wird und, wenn schon, dann was, können wir heute nicht sagen. Wo sie noch unter vierzig ist und weder Immobilien verwaltet noch einen SUV besitzt, keinen Hund Gassi führt und keinen Kindern Schulbrote schmiert, nehmen wir einmal an, sie habe viel Freiheit in ihrer Lebensgestaltung. Sie singt und sie tanzt, spielt und malt. Aber was wissen wir schon von ihrem Lebensentwurf und Idee von Partnerschaft? Was erlauben wir uns einander zu unterstellen? Und wer redet über uns, wenn wir gerade nicht zugegen sind oder selbst über uns reden?

So unter Kolleg*innen. Bei der Arbeit. In der Freizeit. Privat. Dienstlich. Es entstehen Bünde und Bande, denen wir Bezeichnungen geben, wie Pat*in oder Buddy, Mentorin, Praktikant*in, Team und Leitung. Ob kollegiale Beratung oder Zielvereinbarung, Feedback oder Jour Fix, wir schaffen uns eine Kultur der Begegnung, Rollen, im Vertrauen und Misstrauen, zur Stärkung und Förderung von Qualitäten einerseits und wahrgenommen als Unterdrückung von Kreativität, Impulsivität und Inspiration andererseits. Als eine Familie wollen wir uns erleben, zusammen Feste feiern und uns Aufmerksamkeit schenken, zusammen wachsen und uns weiter entwickeln, Lernzeiten gewähren, zusammenhalten wenn wer schwächelt und kränkelt, sich für eine Zeitlang zurückziehen, weil alles zu viel wird, ein Sabbatical nehmen, wenn die Zeit dafür kommt. Meetings beginnen wir mit Warm-ups und Empfindlichkeitsrunden, anhand der Ampel erklären wir einander wie es um uns steht. Die Prinzipien der Achtsamkeit versuchen wir anzuwenden und Entscheidungen hätten wir gerne im Konsens getroffen.

Manche von uns sind schon älter als Alicia, andere sind jünger. Einige sind Väter oder Mütter oder sogar schon Großmutter, Granny oder Oma. Wir kommen aus dem Osten und dem Westen, aus dem Norden und dem Süden. Wir sind offen für Genderfragen und feiern Diversity. Wieviel davon Liebe ist und Geborgenheit verspricht, steht auf einer anderen Seite geschrieben. Im Kern sind wir eine Gruppe von Kolleg*innen, die zeitlich mehr oder minder befristet sich ein digitales Netzwerk teilt, ein Team bildet, als organisatorische Funktionseinheit unter einer Leitung und mit einer Personalnummer und einem PC ausgestattet wurde und sogar dem Versprechen zu Bürozeiten einen Arbeitsplatz in bewährter Clean Desk Praxis und Shared Space Policy vorzufinden. Dafür werden wir bezahlt, haben einen akademischen Grad nachgewiesen und beeindruckende CVs präsentiert, als Psycholog*innen, Sprach- oder Sozialwissenschaftler*innen, Ethno-, Anthro- oder sonstwie Loginnen. Mit inter- und intrakulturellen Kompetenzen befassen wir uns, machen Menschen auslandsfähig und wem es an Kompetenzen mangelt, darf sich bei uns auch von Begriffen wie Handlungs- und Gestaltungskompetenz inspirieren lassen – nein, irritieren wollen wir nicht.

Unsere Tage versuchen wir mit Sinn zu füllen, denn wir arbeiten heute nicht mehr für das Geld. Geld wird als gegeben angenommen. Zwar nie so viel, wie uns im Vergleich zu anderen mit gleicher Qualifikation zustehen dürfte, aber auch nicht gerade so wenig, dass wir auf Urlaub verzichten müssten und unsere CO₂ Bilanz droht abzustürzen unter ein für die Volkswirtschaft eines europäischen Industrielandes übliches Mittelmaß. Arbeit dient nicht der Produktivität, sondern der Sinnstiftung – New Work lässt grüßen – David Graebers „Bullshit-Jobs“ lassen wir nicht zu sehr an uns herankommen. „Die Menschen denken, du machst dein Hobby zum Beruf, du übst bei jeder Yogastunde für dich selbst. Aber das stimmt nicht. Die Diskrepanz zwischen Yoga selber üben und Yoga unterrichten ist groß“ (Eva Obermeier). Die Arbeit soll uns erfüllen, begeistern und unsere Innovationskraft wecken. Wir wollen kreativ wirksam Spaß zusammen haben und dabei auch noch Anerkennung erfahren. Dabei wollen wir besser sein als unsere Konkurrenz, die Auftraggeber von unserer Professionalität überzeugen, nah am Kunden sein, die Bedarfe frühzeitig erkennen und darauf reagieren können, damit wir auch morgen noch einen wesentlichen Beitrag zum Wohl der Menschheit leisten dürfen, ohne uns dabei selbst zu verlieren oder in unserer beruflichen Existenz in Frage gestellt zu werden. Die Inner Development Goals bilden die Grundlage zur Lösung der großen Herausforderungen unserer Zeit, denen wer mit den Sustainable Development Goals den Kampf angesagt haben.

Das mag für dich mehr oder weniger zutreffen und gelten, kann aber auch ganz anders wahrgenommen werden. Ob Mitte des letzten Jahrhunderts geboren oder erst zur Jahrtausendwende, wir unterstellen, dass Wertewandel stattfindet und sich Haltungen ändern. So entsprach die Aufgabenverteilung der Eltern noch dem Skript vieler Familien, in denen laut Geschlechterforschung Väter „mit Tätigkeiten zur Familienarbeit beitragen, die nicht unmittelbar dringend sind“, während Mütter in den Aufgaben festhängen, die „ein hohes Maß an Dringlichkeit aufweisen“ – wie eben das Schmieren von Pausenbroten oder das Wegwischen von Katzenkot. In dem Buch „die Erschöpfung der Frauen“ von Franziska Schutzbach heißt es jedoch, dass sich auch heute noch Paare schwer damit tun, mit diesen Rollen zu brechen. Was hat sich also schon geändert? Machen wir nicht im Wesentlichen immer weiter, wie bisher und wie wir es immer gewohnt waren? Schließlich passiert ja auch in der Popmusik nicht viel, wo der Remix und das Playback heute den Ton angeben. Wir lassen uns kollektiv von KI und Spotify unsere Lieblingslieder präsentieren. Nur die Kommunikation findet statt in einer ganz anderen Dimension als noch vor der Jahrtausendwende. Kein Mobiltelefon zu haben liegt inzwischen schon außerhalb der Vorstellungswelt der meisten Altersgenoss*innen. Wir werden erdrückt von Signalen auf tausend verschiedenen Kanälen.

Wollen wir nun aber doch unser Augenmerk auf das Konzept lenken, das wir Patenschaft nennen. Schließlich sollte es darum gehen, als sich der Geburtstag ankündigte. So heißt es bei Wikipedia: „Als Patenschaft wird die freiwillige Übernahme einer Fürsorgepflicht bezeichnet. Eine Patenschaft unterscheidet sich von einer Partnerschaft darin, dass die beiden Teilnehmenden nicht gleiche Rechte und Pflichten besitzen, sondern eine einseitige Fürsorgeaufgabe wahrgenommen wird.“ So sorgt der Geburtstagspate dafür, dass dem Geburtstagskind Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wir sind es gewohnt, dass auf dem Bildschirm Luftballons erscheinen, bunt verzierte Muffins aufpoppen und Nippes und sonstiger Deko aufgefahren werden, um unsere Sympathie zu bekunden und die Endorphinproduktion zu stimulieren. Geburtstag bringt in der bürgerlichen Gesellschaft Mitteleuropas Kaffee und Kuchen mit sich. Paten kümmern sich darum, dass das Kind nicht vergessen wird. Was muss aber passieren, wenn sich Paten mit ihrer Aufgabe entweder überidentifizieren oder aber mit den Konventionen wenig anfangen können? Dann kann alles passieren: Von Vergessen über die Weigerung bis zur Flucht sind alle Optionen gegeben. Paten können auch unzuverlässig sein.

In unserem Kontext lohnt sich der Gedanke, inwiefern eine gewisse Distanz zu Gewohnheiten und Normalitäten geradezu eingefordert werden sollte. Alicia hat das Team verlassen und geht heute eigene, selbständige Wege. Sie hat sich den Hierarchien der großen Gesellschaft entzogen und erforscht alternative Ansätze. Wohin wir dabei gelangen, können wir nicht vorher wissen. Die Lösung für die Krise der Menschheit wird sich uns kaum allein durch Denken eröffnen. Neue Wahrheiten wollen wahrgenommen werden – mit allen Sinnen. Es ist wohl eine Reise in ein Land, das beim Reisen entsteht. Manche Idee ist geklaut, auch wenn der Dieb nicht genannt werden möchte. Wie wir wieder wahrnehmen, wach uns spürend den Krisen dieser Zeit begegnen, damit befasst sich Heike Pourian und erfährt Zuspruch in der Tanzcommunity. Mögen die Thesen auch nicht grundlegend neu sein und in der Soziologie und Sozialpsychologie sowie von einigen theoretischen Biologen bereits seit längerem vertreten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Jakob von Uexküll seine „Umweltlehre“, nach der Wahrnehmung auf einen Funktionskreis angewiesen ist, für den sowohl „Wirkorgane“ (der Bewegungsapparat) als auch Sinnes- bzw. „Merkorgane“ konstitutiv sind.

Einfluss hat natürlich, welches Weltbild im Elternhaus vorgeherrscht haben wird, in der Kita, in der Schule und unter Peers. Mit erschrecken ist zu beobachten, dass gerade junge Mädchen sehr auf das Gehabe rechter Typen abfahren, den Style, das toxisch männliche, und damit beträchtlichen Anteil daran haben, dass bei Wahlen die chauvinistischen, nationalistischen und identitären Lager in der jüngsten Vergangenheit nicht nur in Deutschland Zulauf verzeichnen. Womit wir bei der Machtfrage, dem Patriarchat und dem Klassenkampf angekommen sind, um befürchten zu müssen, dass unsere liebgewordene Bubble bald platzen könnte und der bürgerliche Mainstream (links-liberales Milieu) seinen sicher geglaubten und mutmaßlich rechtmäßig eingenommenen Platz aufgefordert sein könnte zu räumen. Trotz Wokeness und aufgeklärtem postkolonialem Duktus, Macht-Bewusstsein und Antidiskriminierungsgesetzen, Nachhaltigkeitskonzepten und Bürgerbeteiligung. Die multikulturelle Gesellschaft stößt auf Widerstand, die internationale Zusammenarbeit erntet Kritik und die Formen der Migration, die der Suche nach Auskommen und Arbeit, Sicherheit und Freiheit geschuldet sind, stoßen auf Missachtung. Wer Status und Pass, Geld und Versicherung bereit hält ist in allen Ferienressorts herzlich willkommen und wird als Gast zwar nicht unbedingt mit Respekt, aber doch mit qualitätszertifizierter Dienstleistung bedacht.

Wir haben LänderWissen und Landeskunde, Landesanalysen und interkulturelle Kompetenz im Angebot, doch die Nachfrage fällt. Die einen wissen schon alles was nötig ist und die anderen wollen gar nichts mehr wissen. Learning Nuggets und Podcasts, Videoanimationen und Gamification sind in aller Munde, doch wenn du danach suchst, dann findest du mehr Masse als Inhalt. Zum Erfolg bedarf es einer gewissen Entscheidungsfreudigkeit und Zielstrebigkeit, der Bereitschaft Führung zu übernehmen und einer Grundausstattung kommunikativer Skills. Von den Netzwerken, dem Smalltalk, der Selbstoptimierung und Disziplin wollen wir nicht sprechen. Wie viel einfacher es ist, im beruflichen Kontext Anerkennung zu bekommen, wenn beim Fußball-Lotto richtig getippt wird und im Bingo herzlich mitgelacht werden kann, als wenn wer daran wenig Gefallen findet. Damit dürfte sich bei Gelegenheit eine Diplomarbeit befassen. Was aber unerlässlich sein dürfte, ist die Bereitschaft mit KIM und Chat GPT Freundschaft zu schließen und sich irgendeiner Kampfeinheit oder Gruppe von Botschafter*innen für Digitalisierung anzuschließen.

Wie weit unser Blick auch schweifen mag, am Ende gilt die Begegnung mit dem unmittelbaren Gegenüber. Worauf sind wir bereit uns einzulassen? Welche Wahrheit und Wirklichkeit wollen wir an uns heranlassen? Woher beziehen wir unsere Informationen? Wieviel davon wurde uns vorgekaut, in Portionen abgepackt und serviert wie im Supermarkt ein Plastikspielzeug in einer Hülle von Billigschokolade und einer Verpackung, die uns „Überraschung“ suggeriert. Eine der ersten Kampagnen der Last Generation war die Aktionsreihe Essen Retten Leben Retten. Dabei wurde gefordert, dass die Bundesregierung gesetzliche Maßnahmen für eine Agrarwende bis 2030 festlegt, gegen Lebensmittelverschwendung vorgehen sollte und Lebensmittelhändler dazu verpflichten, noch genießbares Essen an die Tafeln zu spenden. Um eine umfassende Agrarwende einzuleiten, sollte sich die Bundesregierung an den Vorschlägen des Bürgerrats Klima orientieren und dass nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaftsbetriebe besser entlohnt würden und eine „gute Ernährung“ für alle Menschen erschwinglich wird. Fehlernährung, Mangelernährung und noch viel mehr Adipositas werden zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem. Sollten wir uns damit mehr befassen und den offenen Austausch wagen? Oder geht es doch vielmehr um eine Vermeidung von Arbeit auf dem Feld und in der Küche bei gleichzeitig steigenden kulinarischen Ansprüchen an eine globale Küche mit Trauben im Winter und frischen Mango im Lieferservice.

Über die Patenschaft hinausgedacht, die Beziehung im beruflichen Kontext spirituell erweitert, zu Fehlern bereit und lieber lässig als lustlos etwas reproduziert, was zur banalen Konvention degeneriert – so und nicht anders will Frieden entstehen, der nicht mit Waffen erkämpft wird und wissenschaftlich begründet ist durch Jahrtausende studierter Militärstrategien. Über den Horizont hinaus ins All geschossen lehrt Matthias Maurer, Astronaut und noch nicht bereit sich auf einen Flug zum Mars einzulassen, „Demut“. Demut vor der Schöpfung, ihrer Größe und Schönheit. Was meinen wir nicht alles begreifen zu müssen, erleben zu dürfen, erfahren zu können, derweil vor und nach uns Generationen von Zellkonstellationen sich zu organisieren versucht haben und es in Zukunft weiter tun werden. Ein Geburtstag wie dieser kommt sicher nie wieder und doch hat es schon Milliarden von Geburtstagen gegeben, die auch einfach nur so vorübergezogen sind. Sie kommen und sie gehen. Ob mit oder ohne Pat*innen. Es braucht nichts – rein gar nichts. Kein Geschenk und kein Geld, keinen Umsatz und kein Versprechen.

Eines Tages sollen wir die Gelegenheit bekommen, zurückzublicken auf was uns begegnet ist im Leben und was wir daraus gemacht haben. Dann wird sich zeigen, wo das Gefühl gestimmt hat, wo es wert gewesen wäre aufzuhorchen oder einen Schalter umzulegen. Der Abzweig wurde genommen. Wir sind hinausgetreten und haben tief durchgeatmet. Wir erfahren, was es heißt, im Regen stehen gelassen zu werden oder nicht abgeholt worden zu sein. Manche Erfahrung ist bitter, anderes süß. Ob wir wirklich Wurzeln schlagen wollen oder lieber auf Rädern leben ist eine Frage der Sehnsucht nach Bewegung und Leben, eine Vorstellung, die zusammenfällt mit Schilderungen von Heimat und Herkunft. Fürs Kommen ist auch ein Gehen erforderlich und dazwischen begleitet uns die Suche. Nicht immer ist das Glück an unserer Seite, vielleicht aber öfter, als wir es ihm zutrauen. Soll als Aufforderung verstanden werden die Hand auszustrecken und hineinzufühlen in den taufrischen Morgen, die irritierende Luftbewegung; irgendetwas ist immer da, das erspürt werden möchte und sich freudig überrascht zeigt, wenn nachgefragt und aufgehorcht wird. Und damit schließen wir ab, ganz eigensinnig, bekanntermaßen unbekannterweise offengelegt und gebloggt. Der Pate.