Rücksicht

Von einem gegebenen Standpunkt aus schweift der Blick in die Ferne, zurück und hinaus, nach vorne oder nach hinten, mögen wir es Vergangenheit nennen oder schon Zukunft, als Aussicht oder Rücksicht. So schlagen wir einen Bogen von 360 Grad, gewinnen einen Rundumblick, gestatten uns Übersicht. Nur hoch genug stehen müssen wir, damit wir Bismarck auf Augenhöhe begegnen können.

Derweil wir mit dem Zweirad die norddeutsche Tiefebene erschließen tritt Kamala Harris als neue Präsidentschaftskandidatin der Vereinigten Staaten von Amerika an. „Bevor ich Vizepräsidentin wurde, war ich Staatsanwältin in Kalifornien. Ich habe Gesetzesbrecher jeglicher Art verfolgt. Sexualstraftäter, die Frauen missbrauchen, Betrüger, die Konsumenten ausplündern, Leute, die Regeln zu ihrem eigenen Nutzen verdrehen. Hört also gut hin, wenn ich sage: Ich kenne Typen wie Donald Trump!“ https://www.taz.de/!6023604. Wir blicken nach Westen, von woher der Wind weht. Fahren gegen den Wind. Und wagen wieder zu hoffen, nachdem uns T.C. Boyles kurz nach den Schüssen auf Donald Trump und noch bevor Joe Biden sich als Präsidentschaftskandidat zurückgezogen hat, erklärt: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es keine Fakten mehr gibt, nur noch Meinungen und Propaganda. All diese Faktoren sind ein wahres Hexengebräu für die Zukunft unserer Demokratien. Nicht nur der amerikanischen, sondern auch Ihrer. Wenn Trump wiedergewählt wird, wird jedes Lebewesen auf der Erde leiden, weil die USA sich dann von all den grünen Initiativen Bidens verabschieden werden“ https://www.taz.de/!6022213.

Rückblick oder schlechte Aussicht. Wie getrübt muss der Blick sein und woher mag die Düsternis kommen? Schnell lassen sich die Vorzeichen vertauschen. Auch wenn die Schlacht noch nicht geschlagen ist und die Sieger nicht im Voraus bestimmt werden können, so scheinen sich mit dem neuen Gespann von Kamala Harris und Tim Walz neue Aussichten zu ergeben, derweil mit Joe Biden als Kandidat eigentlich jegliche Hoffnung drohte zu erlöschen – Ansichtssache: Im Osten Putin, im Westen Trump. Und dazwischen viele andere Bots und Trolle.

Nah dran, viel näher, sind die Landtags- und Kommunalwahl in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Wo die Stimmverteilung klare Akzente setzt und es keine Schande mehr ist, sich rechts von der CDU zu positionieren. Was damit gesagt sein will, darüber streiten sich die Journalist*innen und die Meinungsforschungsinstitute. Am liebsten hätten wir die Ergebnisse wohl nur verdrängt. Der Tatsache ins Auge zu blicken, dass die Hälfte der Bevölkerung sich mehr sorgt um Überfremdung und Inflation, als um eine offene und lebendige Gesellschaft, ist betrüblich mit anzusehen. Statt Vielfalt und buntes Treiben, Respekt voreinander, der Sicherung einer Gesundheitsinfrastruktur, Ressourcenschutz, Erhalt und Ausbau von Bildungseinrichtungen sollen Recht und Ordnung gestärkt werden, die nationale Identität bewahrt sein, Volksfest und Tradition, Fußball, Schützenverein, freiwillige Feuerwehr und Formel I. Oder wo findet sich der gemeinsame Nenner derjenigen, die für AfD und Konsorten stimmen. Im Einspruch gegen die herrschende Politik? Gegen Olaf Scholz und Robert Habeck, Annalena Baerbock und Christian Lindner? Richtet sich die AfD ernsthaft gegen die zunehmende Aufrüstung oder verfolgt sie nicht letztendlich nur eine Blut-und-Boden Polemik, die es schafft, Wählerstimmen zu gewinnen? Besorgniserregend weil bevorzugt autoritär und gewaltbereit.

Mag sich doch meinetwegen wer gerne auf die Startbahn kleben. Damit ist ein Standpunkt definiert. Auf die Bedürfnisse der Flugpassagiere mag damit vielleicht weniger Rücksicht genommen worden sein, aber eine Bereitschaft, sich der Verantwortung zu stellen, kann dem Menschen in diesem Falle nicht abgesprochen werden. Vielmehr ist mir die distinguierte Gesellschaft der Wohnmobil-Fetischisten ein Gräuel, die um die noch nicht besetzten Standplätze konkurriert. https://www.zeit.de/familie/2024-06/abrechnung-camping-urlaub-familie-natur Nicht nur in der Saison, wenn alle nach einem Platz an der Sonne streben und die Camper stolz sich für die Nacht bereit präsentieren, mit Girlanden und aufblasbarer Wohnzimmergarnitur. Im Rest des Jahres muss dieses wohl sortierte Equipment, wenn gerade nicht kampiert wird, also die meiste Zeit des Jahres, irgendwo untergebracht werden. Man braucht also Stauraum. Und wenn man zu denen gehört, die ein Campingmobil oder einen Wohnwagen besitzen, dann braucht man natürlich auch noch Parkfläche – ganz gleich ob in der Stadt, vor dem eigenen Haus oder dem des Nachbarn, oder auf dem Land, wo in Feld und Flur noch Platz zu finden ist. Camping sei die Kunst, sich puristisch, naturnah und ressourcenschonend zu fühlen. In mancher Hinsicht und in Anbetracht der zu beobachtenden Entwicklungen auf dem Fachmarkt für Wohnmobile und Campingausstatter gilt wohl vielmehr genau das Gegenteil. Die Urlauber gehören zu einer Kategorie von Menschen, die ganz viel extra haben. Und damit beanspruchen sie Raum, über weite Strecken des Jahres, vom Stellplatz über die Autobahn und die Landstraße bis hin zum Standplatz am Urlaubsort. Dieser Flächenfraß, diese selbstgefällige Raumnahme, sollte zur Diskussion gestellt werden. Nicht nur das zur Schau stellen des weit über das Nötige erforderlichen Materials, sondern rein das zu viel Haben ist schon ein Skandal.

Angesichts der sich in den ländlichen Regionen abzeichnenden Entwicklungen wird die Anzahl der angeschafften Wohnmobile und Caravans in den kommenden Jahren sicher zunehmen. Was will denn der Mensch noch, wenn das Eigenheim mit 200m² und ein Grundstück von 2000m² einmal da sind, aber das Leben auf dem Land nichts mehr zu bieten hat außer einem in der Ferne hörbaren Rauschen der auf einer Fernstraße vorbeiziehenden Autokolonnen und den hoch oben am Firmament dröhnenden Flugzeugen, am Horizont sich die Rotoren einer Windkraftanlage drehen und Amazon einmal am Tag ein Paket vorbeibringt. Da liegt es doch nahe, und steuerlich lässt sich sicher auch ein Vorteil abschöpfen, wenn ein mobiles Heim angeschafft wird, groß genug für eine eigene Dusche an Bord, eine vollwertige Küchenausstattung, ein Bett für gesunden Schlaf und eine, wir denken an die steigenden Temperaturen, Klimaanlage. Die nachhaltige Mobilität wird sichergestellt durch mitgeführte E-Bikes und auf dem Dach findet auch das Stand-Up-Paddle seinen Platz.

„Nachher ist man immer klüger“ lautet eine dieser sinnfreien Formulierungen, von denen mir so viele dieser Tage begegnen. Die Werbeslogans großer und mittelständischer Unternehmen überschlagen sich im Missbrauch von Kreativität, Innovation und Nachhaltigkeit. So verspricht der eine uns in voller Bescheidenheit „wir bringen Ihnen die Zukunft an die Haustür“, ein anderer bietet die „nachhaltige Antwort auf ihre Urlaubsträume“ an. Ich lasse mich gerne verführen von der „Innovation auf der Straße“ oder einem „kreativen Komfort“ wenn es nicht gleich ein „nachhaltiges Dinner in gediegenem Ambiente“ sein darf. Im ländlichen Raum hinterlässt die Politik Lücken. Wenn Behörden, Verwaltung, staatliche Einrichtungen und die Daseinsfürsorge dem Ort nachhaltig den Rücken zugekehrt haben, ist auch Demokratie nicht mehr erlebbar. Menschen ziehen sich zurück. Auf den Feldwegen und Landstraßen begegnen einem keine Kinder mehr. Durch die Gärten kriechen Rasen knabbernde Roboter, selbstgesteuerte KI-Zentralen, die wahrscheinlich in Kürze auch bellen können oder Maulwürfe vertreiben, die Umgebung monitoren werden und Aufzeichnungen über G5 Netze abrufbar machen. Die Kneipen stehen indes leer und der letzte Bäcker hat inzwischen die Pforte geschlossen. Wo sind die Arbeiter geblieben? Wo geht die Arbeit hin? Und wer wird sie machen?

Unsere Zeit ist wertvoll und die Kinder verbringen sie lieber vor dem Bildschirm, tauchen ab in die KI-gestützten Räume, deren Vielfalt wir heute noch nicht in der Lage sind zu erahnen. Dafür gut ausgestattet mit Helm und Cyber-Schwert, von Superhelden animiert, mit Energy-Drink gestärkt und mit Snacks versorgt, damit das Abenteuer beginnen kann. Der Spaß ist garantiert. Es wird schon nicht schaden. Die natürliche Umgebung da draußen birgt nämlich unverantwortliche Gefahren. In Form von Blaualgen, Milben, Spinnen, Wanzen, Würmern, Bakterien und Zecken. Wasser in den Ohren kann eine Schwimmbad-Otitis befördern. Keime, Urin, Fäkalien, Pestizidrückstände, Mikroplastik, Nanopartikel und Mikroben lauern hinter jeder nicht polierten Ecke an öffentlichen Orten und nicht nur in den Toiletten. Sie können Schleimhautreizungen oder eine Bindehautentzündung hervorrufen. Fußpilz, Durchfall und Dermatitis sind die Konsequenz von Verunreinigungen in der ach so hochgeschätzten Natur, die wir doch eigentlich schützen wollten. Dabei sollte Biodiversität vielmehr als Aggressor wahrgenommen werden – nicht zuletzt durch die steigende Anzahl von Allergien, die uns die Botanik und Fauna beschert. Sollen wir um ländliche Räume kämpfen oder uns doch besser zurückziehen in die klimatisierten Städte? Aus dem Urlaub kommen wir zurück mit einer Covid-Infektion im Gepäck, wo wir uns doch gefreut hatten, erholt im Alltag durchstarten zu können.

„Durch Recherchen und Posts zum aktuellen Zeitgeschehen sowie Memes versuche ich, ein sowohl differenziertes als auch verständliches Bild der gesellschaftlichen Lage zu zeichnen“, sagt Nils Haentjes, der Kopf hinter dem Instagram-Account Antiverschwurbelte Aktion. Lasst uns dem Populismus begegnen. Oder stellen wir uns doch eher eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit vor. „Eine Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und andere auffordern, das ebenfalls zu tun?“ wie es Hanija Haruna-Oelker, Autorin des Buches „Die Schönheit der Differenz“ fordert. Ich persönlich wäre in erster Linie bei Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und seiner Forderung „Lasst uns allen jungen Menschen €20.000 auszahlen!“, denn eine Gesellschaft kann nur florieren, wenn sie möglichst vielen eine Perspektive und finanzielle Spielräume für eigenverantwortliche Lebensentscheidungen gewährt.

„Innovation und Kreativität können nicht staatlich verordnet werden; sie erfordern den Mut, unkonventionelle Wege zu gehen“. Was aber die Forderung „Lasst uns Leute vor Gericht bringen, die falsche Fakten verbreiten!“ in keiner Weise entwertet. In einer Zeit, in der nur 45 Prozent der Schüler*innen zwischen Fakt und Meinung unterscheiden können, stellt sich irgendwann die Frage, wer denn dann noch Recht sprechen soll und wie wir uns gesellschaftlich sortieren wollen, wo doch offensichtlich die Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen schwindet. „Wir werden KI erst dann zu unserer aller Vorteil nutzen können, wenn Menschen die Urteilskraft haben zu verstehen, was sie kann und nicht kann, wozu sie genutzt werden sollte und wozu nicht“ behauptet Matthias Spielkamp und ergänzt: „Dazu brauchen wir Investitionen in Kitas und Schulen, in denen Kinder keine iPads bekommen, sondern einen guten Personalschlüssel.“

Nach Osten geschaut, über Polen hinaus und nicht nur Nowgorod, von wo bekannt ist, dass dort schon im Mittelalter ein wesentlicher Teil auch der einfachen Leute lesen und schreiben konnte, und weiter der Seidenstraße folgend bis nach China, was wollen wir denn verteidigen, wenn es darauf ankommt und wofür genau wollen wir wehrhaft werden? „Kriegstüchtig“ soll das Volk sein wird gefordert. Die Rufe nach mehr Zugriff des Staates auf seine Bürger und ein im Zuge der zuende gegangenen Fußball Europa Meisterschaft gestiegenes Nationalbewusstsein erklingen. Pflichtdienst, damit jeder einmal etwas für seine Gesellschaft tue – zum Schutz der freiheitlich westlichen Ordnung, im Geiste der Demokratie und für soziales Engagement, nicht gleich zu verwechseln mit Engagement Global. Je mehr die objektive soziale Spaltung der Gesellschaft zunimmt, desto mehr soll ein nationales Wir beschworen werden. „Eine Staatskritik, die die Interessen von Herrschern und Beherrschten auseinanderzuhalten weiß, war noch nie sonderlich weitverbreitet und ist spätestens seit Putins Einmarsch in der Ukraine endgültig verpönt“ (Ole Nymoen, der zusammen mit Wolfgang M. Schmitt „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“ veröffentlicht hat). Im Krieg erwacht die Idee des homogenen Volkes, ein vermeintlich totgeglaubtes Relikt aus dunklen Zeiten. Wenn es heißt, die Ukrainer wollen kämpfen, dann entsteht der Eindruck, als handele es sich um eine von jedem Abweichlertum befreite Interessengemeinschaft mit dem alleinigen Zweck, der souveränen Herrschaft zu dienen. Dabei darf doch selbstverständlich unterstellt werden, dass in jedem Krieg ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung lieber unter fremder Herrschaft leben als im Kampf sterben möchte. Wäre ansonsten der Siegeszug der Nationalsozialisten erklärbar und dass Pazifist*innen, Anarchist*innen und Sozialist*innen in der Vergangenheit als auch in der Zukunft zu Opfern von gewaltbereiten Autokratien geworden sind und es wieder werden (Rückblick und Ausblick). Rechte machen schlechte Laune. In Bezug auf die AfD ist das empirisch belegt. AfD-Unterstützende sind unglücklicher und schätzen ihre finanzielle Situation schlechter ein als der Rest. Der proletarische Revolutionär dagegen kennt keine ausweglose Situation.

Nochmal zurück geblickt in das Jahr 2019 als der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen in einem Gutachten erklärt: Den Umweltwissenschaften ist klar geworden, dass sich der Natur- und Ressourcenverbrauch mit der gegenwärtigen Form der Digitalisierung nur weiter verschärft und die planetarischen Grenzen überschritten werden, schlimmstenfalls bis zum Erreichen von Kipp-Punkten, die Klima und Ecosystem auf Dauer beschädigen. Digitalisierung droht als Brandbeschleuniger zu wirken. Wir werden gesellschaftliche Veränderungen vom radikalen Strukturwandel in der Wirtschaft mit Folgen für die Arbeitsplätze über den Ersatz realweltlicher Erfahrungen in virtuellen Räumen und die vielfältigen Wirkungen von künstlicher Intelligenz auf Bildung, Wissenschaft, und Demokratie bis hin zu Überwachungstechnologien und Social Scoring erfahren. Google kontrolliert unser Wissen, Amazon die materiellen Bedürfnisse, You-Tube und Instagram bestimmen unsere Bilderwelten. Und die Frage wird lauten: Wie kann KI zu Demokratie und Frieden, zur Achtung der Menschenrechte und zur Selbstverwirklichung beitragen und nicht nur zu maximalen Gewinnen von Meta, Google und Apple? Warum wirft sich Elon Musk mit Donald Trump in den Wahlkampf? Und wird Taylor Swift die amerikanische Präsidentschaftswahl entscheiden? Die Aussichten stehen schlecht.

Gerade darum ist mir am Konzept der Rücksicht gelegen: Zurück geblickt hat sich doch allerhand zu einem besseren gegeben. Mal abgesehen vom Älter werden und den sich damit einstellenden Beschwerden. Ich kann gut damit leben, dass es in Deutschland keine Todesstrafe gibt und im Rheinland die Kohleindustrie ihren Zenit überschritten hat. Die Straßen sind sicherer geworden, auch wenn der Verkehr schneller ist, die Medizin konnte Erfolge vorweisen, an die hätten wir vor 100 Jahren nicht gedacht und ich kann es nicht oft genug sagen: Sanitäre Anlagen, Zentralheizungen und elektrische Herde sind Errungenschaften, auf die möchte ich nur sehr ungern verzichten. Ob ich dafür in den Krieg ziehen würde, mag ich dennoch bezweifeln. Wie viel Unrecht, Unterdrückung, Machtmissbrauch, Willkür und Verfolgung ich bereit wäre zu ertragen, bevor ich zu einer Waffe greife, bleibt eine unbeantwortete Frage. Einer Nation zu dienen, einem anderen Volk den Krieg zu erklären, eine Waffenindustrie zu finanzieren oder selbst noch mit aufzubauen, das liegt mir gänzlich fern. Gott bewahre. Gott ist groß. Alhamdulillah.

Rücksicht nehmen heißt vor allem, sich zurücknehmen, sich nicht immer in den Vordergrund zu drängen, sich einmal zurück halten auch wenn man könnte, wenn man meint zu wissen, wenn man schneller wäre als der andere. Den Schwachen den Vortritt lassen, die Zeit an sich vorüberziehen lassen, die Zukunft warten lassen, hinten anstellen an der Kasse und nicht drängeln, um sich schauen, in die Runde blicken, wirken lassen. Die Vorfahrt lassen, die Geschwindigkeit drosseln, zur Seite treten. Und, wo wir gerade die Olympiade haben zuende gehen sehen, vielleicht nicht sich messen, sich besiegen, überholen, stärker sein müssen. Viel mehr hilfsbereit, unterstützend tätig, einen Beitrag leistend und nicht fordernd. Nicht auf die Spitze treiben, sondern gemeinsam voran schreiten, nach Lösungen suchen statt Regeln zu verfassen, spielen statt streiten, sich zufrieden geben statt stolz sein und singen statt schreien.

Treu sein ist ein Akt der Tapferkeit. Es bedeutet, nicht allzu leicht umzuknicken. Auch wenn beständige Menschen als altmodisch, langweilig und humorlos gelten und Treue keinen guten Ruf zu haben scheint. Dabei bezeichnet Treue nicht den blinden Gehorsam, sondern die gegenseitige Achtung. Vertrauen hat sprachlich den gleichen Ursprung wie Treue und das stammt vom indogermanischen Ausdruck doru oder dru: der Baum. Das Echo klingt nach im englischen Wort tree und, interessant, ebenso in true, wahr. Treue gleicht dem Baum. Treuepunkte im Supermarkt mag ein Versprechen darstellen in Verbindung mit einer Belohnung. Es hat aber nichts mit Treue im Sinne des Wortstamms zu tun, denn niemand hindert mich das Produkt meiner Wahl auch in einem anderen Laden zu kaufen. Was zu kurz kommt bei dem reinen marktwirtschaftlichen Konzept der Treue ist die gegenseitige Achtung (auf Augenhöhe mit Bismarck). Sich selbst treu zu sein heißt, Prinzipien zu haben, sich selbst gegenüber brüderlich-schwesterlich, mitmenschlich liebevoll zu sein in dem Sinne, dass man weiß, welche Wurzeln einen in der Welt verankern und daran hindern, existentielles Treibgut zu werden.

Der Homo Sapiens stolpert mit seinem Steinzeithirn durchs Anthropozän (Franca Parianen). Die Gegenwart hat Vorfahrt. Der unmittelbare Lustgewinn ist zur Doktrin erklärt worden. Wie fühle ich mich dabei? Was ist mein Vorteil? Warum sollte ich es tun? Es sollte doch zumindest Spaß machen. Nein! Es sollte vielmehr einem Zweck dienen. Welche Rolle die Zukunft in unserem Denken spielt und wie viel Wichtigkeit wir ihr geben, das hängt sehr davon ab, wie alt wir sind. Vor allem Jugendliche haben den Ruf, ihre Zukunft fahrlässig aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich ist unser Gehirn in diesem Alter getrimmt auf neue Erfahrungen und Belohnungen – und damit auch anfällig auf Impulse und Süchte. Etwas später, im jungen Erwachsenenalter, wenn unsere Impulskontrolle etwas weiter ausgereift ist, hilft uns weiterhin ein hellwaches Dopaminsystem dabei, schnell Informationen zu sammeln und statistische Tendenzen auszuwerten, um mit wenig Erfahrung große Entscheidungen zu treffen. Später, wenn diese Fähigkeiten nachlassen, greifen wir eher auf unseren Schatz an erlerntem Verhalten zurück. Das erklärt, warum Menschen in höherem Alter eher zögern, ihr Handeln an Zahlenprognosen auszurichten. Zukunftsdenken muss man sich leisten können.