Die Trockenheit ist vorbei. Es hat doch wieder geregnet. Bisweilen fällt auch das Termometer unter 0°C und dann wird es unangenehm kühl unter den Brücken und in den Bahnhofsschächten. Da rücken sogar die Obdachlosen zusammen und finden sich nachts im Café der Gefährdetenhilfe ein, wo sie einen heißen Tee oder Kaffee bekommen und sich zum schlafen niederlassen können. Der Sommer ist schon lange zuende. Wieder kommt ein ganzes Jahr hinter uns zum Liegen. Wie fühlt sich das an? Älter werdend. Die Zeit verinnend. Die Kinder aus dem Haus. Oder nie Kinder gehabt zu haben. Noch immer alleine. Oder schon wieder. „Jeder Mensch, ob arm oder reich, hat unseren Blick, und, wenn er sie braucht, auch unsere Hilfe verdient“ sagt Frank-Walter Steinmeier.
Und was hast du geschafft im vergangenen Jahr? Hast du Frieden gestiftet? Ein Baumhaus zerstört? Bist du unter 5.000 kg CO² Emissionen geblieben? Oder hast du ein neues Auto gekauft? Eine neue Küche angeschafft? Geerbt womöglich? Rückblickend: Ich bin Mitglied im Vorstand eines Vereins geworden und habe die ehrenwerte Aufgabe des Kassenwarts übernommen. Ich habe wieder 4 kg Körpergewicht zugelegt und liege damit voll im Trend. Meine CO² Bilanz fällt in diesem Jahr kathastrophal aus. Bin in Bangkok gewesen – rein dienstlich versteht sich – aber unverzeihlich; bin erste Klasse geflogen und habe damit gleich 4x soviel auf die Waage gebracht wie der Economy-Gast. Und ich habe Stonehenge gesehen. Im Bioladen habe ich €2.734,09 gelassen und unterstützte finanziell nicht nur Pro Asyl sondern auch noch den Sea Watch e.V. „Kampf oder Untergang!“ von Noam Chomsky und Emran Feroz habe ich gelesen und verstehe jetzt besser, warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen. Und den Dialog am Abend darf ich weiterhin moderieren und freue mich schon auf meine Gesprächsgäste der kommenden Monate.
Eine wesentliche globale Veränderung habe ich im vergangenen Jahr nicht feststellen können. Die Temperaturen steigen wie prognostiziert. Die Klimaziele werden erwartungsgemäß nicht erreicht. Wundert’s? Oder meint ihr, dass global betrachtet mehr Menschen weniger zu konsumieren bereit sind? Solange diejenigen, die heute schon übermäßig viel haben nicht beginnen zu verzichten, solange brauchen wir doch keine Debatte darüber zu führen, dass die 5 Milliarden, die noch nicht so viel konsumieren nicht auch noch stets etwas mehr haben möchten. Und da reden wir doch noch gar nicht von der Tatsache, dass laut OXFAM die reichsten ein Prozent, seit einigen Jahren schon, mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen besitzen – Tendenz steigen. Und natürlich großteils Männer. Unterdessen nehmen die Touristenzahlen zu. Nicht nur die Deutschen und die Holländer*innen entdecken die Wunder dieser Welt, auch aus Thailand und Nigeria, aus Georgien und China begeben sich Menschen auf Reisen. Und wie wir früher die Ferienhäusschen auf Mallorca und in Portugal erworben haben, so präsentiert sich den Chines*innen und Araber*innen heute ein attraktiver Markt an Immobilien im ach noch immer so friedlichen und freiheitlichen Europa.
Aber die Grenzen sind nicht zu unterschätzen. Im Mittelmeer sollen in 2018 wohl weniger Menschen ertrunken sein als in 2017. Und doch waren es im Juni schon 1.400. Ein großteil davon hatte im Sinn, sich in Europa ein neues Leben aufzubauen. Wie die Söhne von Marzoug, die inzwischen in Paris leben und wie ihr Vater sagt, dort geradezu aufblühen. Derweil lebt Marzoug noch stets in Tunesien und beerdigt und besucht die Toten, die in Zarzis angeschwemmt werden. Und doch würde er lieber Pizzabäcker in Paris werden. Nur leider wird die Überfahrt immer gefährlicher. Claus-Peter Reisch von der Lifeline und Pia Klemp von der Sea-Watch III werden kriminalisiert. Helfen und Retten kann schnell zum Verbrechen werden. Dabei sollte sich strafbar machen, wer Menschen ertrinken lässt und nicht wer die Rechte von Flüchtenden und Unterprivilegierten verteidigt und schützt. Die Strategie der EU lautet aber, Flüchtende zurück nach Lybien, auch wenn ihnen dort Folter, Haft und Vergewaltigung drohen.
Es ist schon besser, zur Mittelschicht zu gehören. Es ist immer besser eine Kreditkarte zu besitzen und nicht nur ein Smartphone. Und grundsätzlich ist es immer besser, einen europäischen oder amerikanischen Pass zu haben als einen liberianischen oder afghanischen. Damit kommst du nicht weit. Nur dein Geld, wenn du welches hast, kommt auch ohne Pass ins Steuerparadies. Und unter den Reichen sind sich alle gleich. Sie fliegen, wenn Sie Lust haben, ins All oder bauen sich schwimmende Inseln. Sie kennen keine Grenzen. Und ob die unteren 80% sich irgendwann doch noch gegen die Superreichen erheben bleibt offen. Wahrscheinlich reicht ihnen die Aussicht darauf, vielleicht doch einmal dem globalen Mittelstand anzugehören. Wenn schon nicht ausharren und mundhalten, dann doch eher fliehen als sich wehren und zum Opfer werden. Die Chancen sind doch nicht grundsätzlich schlecht, doch nochmal zu den Gewinnern zu gehören, so jedenfalls mag das Buch Factfulness von Hans Rosling interpretiert werden. Oder halten wir es doch eher mit Shoshana Zuboff „Nur ein entschiedenes >>Wir, das Volk …<< vermag diese Entwicklung noch umzukehren. Dazu gilt es, das Beispiellose zu benennen und neue Formen gemeinsamer Aktion zu mobilisieren; es gilt, Sand im Getriebe zu sein, die alles entscheidende Auseinandersetzung zu fördern, die auf das Primat einer florierenden menschlichen Zukunft als Fundament unserer Informationszivilisation besteht“. „Was das Ganze so unerträglich macht, ist der Umstand, dass zwar die ökonomische und soziale Ungleichheit zum vorindustriellen `feudalen´Muster zurückgekehrt ist, aber nicht der Mensch“.
Was mich dabei beunruhigt ist der Tatbestand, dass vermeintlich die Arbeit immer mehr wird und es zeitgleich an Fachkräften mangelt. Start-ups scheitern oftmals, weil die Strapazen der ersten Jahre einfach nur von wenigen durchgestanden werden. Ohne Startkapital bringt auch die beste Idee keinen Reichtum hervor. Die Herstellung all der Waren, die unser Leben so erträglich machen, muss stets irgendwo erfolgen. Die Rohstoffe müssen gewonnen werden und transportiert, die Produktionsprozesse wollen entwickelt und optimiert werden, die Vertriebswege müssen aufgebaut werden, die Transporte organisiert, die Verrechnungen erfolgen und der Handel juristisch und fiskalisch fundiert und reglementiert. Da gibt es noch allerhand zu tun das sich noch nicht gleich vollautomatisieren lässt. Derweil befasst sich eine zunehmende Anzahl Menschen mit der Programmierung von idiotischen Spielen, entwickelt Cyberwaffen und kreiert Online-Börsen für alle Sorten nutzloser Dinge, die dann ein paar Jahre später entsorgt werden müssen oder in den Ozeanen herumschwimmen. Arbeit ohne Ende. „Die armen Kinder von morgen“ kommt mir dabei in den Sinn und schimpfe mich dann gleich wieder aus als konservativen Traditionalisten. Greife also zu auf das 7. Gebot des systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung und zitiere: „Arbeite mit der und manchmal gegen die aktuelle Welt“. Wir flexibilisieren die Arbeitszeit und werden mobiler. Der Arbeitsplatz ist von gestern, morgen treffen wir uns online. Wir schalten nicht mehr ab sondern lieber noch einen Kanal oder einen Monitor dazu. Sogar am Strand sind wir verfügbar. Da macht sogar das Reisen wieder Spaß, denn wir büßen kein Gramm Effizienz mehr ein. Wir steigern unsere Leistungskraft und fördern unsere Gesundheit dabei. Wir sind frei.
Nur leider sterben nun auch noch die Insekten aus. Aber mal ehrlich: Wer wird die denn vermissen? Fliegen, Mücken, Küchenschaben, Kakerlaken? Lieber weniger als mehr sollten wir doch meinen. Was heißt denn Nahrungskette? Mal Biologieunterricht besucht? Nur etwas von Mitochondrien und endoplasmatischem Retikulum behalten, von DNA und Ribonukleinsäure? Nahrungskette war unser Thema doch nicht. Aufbau des Regenwaldes vielleicht aber doch nicht Bodenfruchtbarkeit. Lässt sich doch durch düngen erhalten. Nur noch ein paar Jahre und ein großteil unserer Nahrung wird auf Insekten basieren. Keine andere Quelle verspricht soviel Protein zu liefern, wie eine Larvenzucht in Massentierhaltung. Wir können das auch durchaus „industrielle Tierproduktion“ nennen, um die Gelegenheit nicht zu verpassen und auf Robert Habeck hinzuweisen, den wir uns durchaus mal vorstellen sollten als Bundeskanzler oder Bundespräsident. Falls Männer überhaupt nochmal an die Macht kommen sollten. Denn Klimawandel ist ja nun doch von Männern gemacht. Oder wie Linda Ederberg sagt: „Klimawandel und Patriarchat gehen Hand in Hand“.
So bauen wir weiter aus Beton und Glas, mit viel Stahl und Strom. Wir haben uns vom Kohleabbau frei gemacht und den Hambacher Forst gerettet. Unterdessen fällt der brasilianische Urwald der Viehhaltung und der Soyaproduktion zum Opfer. Unsere Städte leiden unter dem massenhaften Individualverkehr. Der Autonation Deutschland ist es bislang nicht gelungen ein zukunftsfähiges Konzept vorzulegen, wie der Verkehr der Zukunft aussehen soll. Bislang gilt Vorfahrt für die Autobahn, der Schnellweg ist noch immer der bevorzugte Sprech. Autoschneisen spalten Ortschaften, SUVs dröhnen wie einsmals Traktoren und blockieren die Fahrradspur, sofern es überhaupt eine gegeben haben soll. Mütter kutschieren ihre Kleinen mit 250PS zum Kindergarten und sparen sich bei Aldi und Lidl blöd (Stichwort: Patriarchat?). Welche Geschichte werden unsere Kinder sich eines Tages über diesen Größenwahn eines Zeitalters des Überwachungskapitalismus (nochmal Shoshana Zuboff) erzählen?
Wir agieren global. Lokal kann ich keine Veränderungen erkennen. Und so starten wir durch, begrüßen das neue Jahr. Böllern was das Zeug hält und denken vielleicht zum ersten Mal, dass die Feinstaubemissionen durch Feuerwerkskörper in nur einer Stunde ein vielfaches dessen betragen, über was wir derzeit landesweit diskutieren. Es handele sich um rund 15% dessen, was in Deutschland durch den Straßenverkehr jährlich an Feinstaub produziert werde. Wie bescheuert muss man sein Alter? Also feiert schön. Und eines Tages denkt ihr dann zurück und stellt fest: Vieles ist halt so wie es ist und wird wahrscheinlich auch noch lange so bleiben. „Demokratie ist ein Ausgleich der Interessen. Und die Verfahren der Demokratie sichern halbwegs, dass dieser ohne Gewalt vonstattengeht, dass Minderheitenrechte gewahrt werden, dass andererseits nicht jedes Partikularintersesse Anspruch auf Gültigkeit hat. Die Fähigkeit, einen Konsens herzustellen, macht den Kern von Demokratie aus“, schreibt Robert Habeck.
Und damit entlasse ich mich und euch ins Europa-Wahl-Jahr 2019.