Ich bin es – nicht – gewesen

Die Jugend schimpft sich warm. Zu Recht ärgert sie sich über die Alten, die ihnen quasi die Luft zum Atmen gestohlen haben und die Zukunft als privatisiert erklären. Global gezeichnet, ein trauriges Bild von Umweltzerstörung, Kriegstreiberei, Massenmigration und Untergang. Die medialen Prognosen sehen schlecht aus. Statistisch gesehen erwartet die Jugend von heute zwar ein Leben so lang wie noch keine Generation zuvor, das Potential sich weltweit mit Gleichgesinnten zu vernetzen, ein Reichtum an dokumentiertem Wissen, eine Gesundheitsversorgung und Versicherungsindustrie , aber geklagt wird über Bevormundung durch eine Politik der Alten, die zu tragenden Konsequenzen aus dem Klimawandel und eine Bedrohung ihres Rechtes auf freie Lebensentfaltung. Ein kleines bisschen mehr an Reflexion und intellektueller Reife würde ich mir bisweilen doch auch wünschen. Und wenn das Gesicht unserer Parlamente beherrscht zu sein scheint von weißen Männern und der Generation Ü50, dann lasst uns dagegen etwas tun anstatt daraus einen Vorwurf zu formulieren, denjenigen gegenüber, die sich die Arbeit gemacht haben. Ich bin es nämlich nicht gewesen.

Ich habe mich nicht im geeigneten Augenblick für eine politische Karriere entschieden sondern mich abseits gehalten. Ich habe geschaut und geglaubt mit meiner Meinung vielzusehr alleine zu stehen. Auf mich wollte niemand hören und darum bot sich für mich auch nicht an, mich zur Wahl zu stellen. Wer sich der Wahl stellt, muss sich in einem demokratischen Land darauf verstehen, Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Aber Mehrheiten zu gewinnen ist eine harte Aufgabe. Für Männer und für Frauen. Da sind Kompromisse gefordert. Und wer Kompromisse nicht mag, der sollte sich mal ernsthaft mit dem Gedanken befassen, ob Demokratie tatsächlich die angemessene Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Entscheidungsfindung darstellen sollte. Nun, die Rechten gehen damit recht locker um und bezeichnen alles, was ihnen gerade nicht in den konzeptionellen Rahmen und die populistische Meinungsmache passt als Sumpf, Verschwörung und Lüge. Mehrheiten bilden sich hinter Glaubenssätzen wie „unsere abendländische Identität“ und eine unreflektierte aber umso vehementere Beanspruchung des Begriffs „Nation“. Glaubt mir: Ich bin es nicht gewesen! Ich habe mich noch nie für die Nation begeistern können. Ich habe mich noch nie mit der abendländischen Identität schmücken wollen. Und ich habe auch nie den Klimawandel geleugnet. Aber, Mehrheiten konnte ich nie gewinnen und in die Politik bin ich auch nicht gegangen.

Weggelaufen bin ich in den 80er Jahren, als der kalte Krieg und die Atomkraft mich immer mehr belasteten. Beim Militär bin ich auch nie gewesen. Eine Uniform war ich nie bereit zu tragen. Also würde mich auch niemand beim Grenzschutz oder bei der Polizei, bei der Sicherheitkontrolle am Flughafen oder als Fahrkartenkontrolleur gesichtet haben können. Kam für mich nie in Frage. Weggelaufen bin ich erst aus Westdeutschland und geflüchtet in die von den Alliierten besetzte Stadt Berlin. Später habe ich dann ein Flugzeug der russischen Fluggesellschaft Aeroflot bestiegen und bin nach Westafrika geflohen. Es war durchaus vorstellbar, dass ich nie wieder zurückkehre, denn in Europa, so ging es mir, gab es eigentlich nichts mehr zu tun. Die Leute waren gut versorgt, die Infrastruktur entwickelt, Umweltschutz nur für eine klitzekleine Minderheit einer etwas zurückgebliebenen Gruppe von Idealist*innen ein Thema und der Gerechtigkeit hatten sich Punk und Subkultur, Ton Steine Scherben, Joseph Boys und Staeck angenommen. Ich habe keine TAZ mitgegründet, keine anarchistischen Blätter  aufgelegt, keine Geisteswissenschaften studiert oder Soziologie, nichts publiziert. Ich bin es nicht gewesen. Minderheit bin ich gewesen, Suchender, Migrant, Heimatlos. Aber, mitgewirkt und gestaltet habe ich das Nachkriegsdeutschland nur als Arbeiter auf dem Bau, mit einer Ausgabe der ZEIT im Bauwagen Aufmerksamkeit auf mich ziehend, als grünlinker Wähler, mir sehr bewußt, dass ich nicht zur Mehrheit gehöre und eigentlich auch nicht wirklich in Deutschland zuhause bin.

Zurückgekommen bin ich aus Westafrika, weil ich einen neuen Traum hatte. Unter dem Himmel eines Entwicklungslandes war ich plötzlich befreit von dem Druck eines drohenden Krieges, von der Zerstörungskraft des Atoms und den Strahlungen von Tchernobyl, von saurem Regen und den kleinbürgerlichen Lebenswelten. Ich sah meine Aufgabe darin, mit wirken zu können an Wohlfahrt, Gestaltungsspielräumen, Ernährung und Lebensstandard von Menschen in Ländern, die es nicht ganz so günstig getroffen hatten wie die karrierebewußte Generation der Babyboomer*innen der gemäßigten Klimate Westeuropas, mit ihrer jahrhundertealten Geschichte von  Aufklärung, Handwerkskunst, Industrie und Handel. Doch dafür brauchte ich Bildung und die ließ sich in jedem Falle besser in Europa aneignen als in Afrika. Dafür brauchte ich Geld, und das ließ sich in Europa immer leichter verdienen als in Afrika. Und warum sollte ich mir das Leben, mein Leben, unnötig schwer machen. Mit einem deutschen Pass hatte ich noch immer Anspruch auf einen Aufenthalt in Deutschland – also bin ich zurückgekommen.

In Deutschland wird Arbeit großzügig entlohnt. Nicht immer geht es fair zu am Arbeitsmarkt. Frauen werden statistisch gesehen noch immer schlechter entlohnt als Männer. Die Kluft der Arbeiter*innen ist fehl am Platz in der Oper und dem Theater seitdem Brecht verstorben ist. Anzug, Schmuck und hohe Hacken stehen für Ansehen und Kompetenz. Aber, wer nicht ganz am Rande der Gesellschaft steht, wer Arbeit hat und Einkommen, dem ist doch ein gewisser Wohlstand gewährt. Der Klassenkampf ist damit nicht zuende und die Verteilung des Wohlstandes eine Frage mit wachsender Aktualität, aber grundsätzlich muss sich Deutschland im internationalen Massstab nicht verstecken. Oder, um es mal anders zu sagen. Es geht euch gut hier. Es geht mir gut hier. Es geht uns gut hier. Und damit will ich nicht gesagt haben, dass es uns nicht besser gehen könnte. Sondern lediglich, dass ich als Afrikaner*in durchaus naheliegende Gründe finden kann, warum ich lieber hier als in Mali leben möchte. Und zwar nicht nur wegen des Wohlstandes, sondern auch wegen der Freiheiten, die ich in Libyen und im Sudan, in Südafrika und in Guatemala, in China und im Iran so nicht hätte. Aber, ich habe es nicht getan. Ich habe weder den rechtlichen Rahmen mit gestaltet, noch habe ich an der Gesundheitsversorgung mit gewirkt, ich war in keiner Gewerkschaft aktiv und nicht in der Politik. Ich habe keine Strassen gebaut und keine Brücken, keine Informationstechnologien entwickelt und keine Düngemittel. Ich habe in keiner Weise dazu beigetragen diesen Wohlstand zu kreieren. Gärten habe ich angelegt und pflege  noch heute Außenanlagen. Ich beackere Lernlandschaften und gestalte Lernumgebungen.

Es ist tröstlich zu wissen, dass Enthaltung auch mal etwas Gutes mit sich bringen kann. Wo ich doch ansonsten eher die Überzeugung vertrete, es wäre besser etwas zu machen als nur darüber zu reden. Wenn ich aber weder Autos bauen kann noch Waffen konstruieren, wenn ich nichts verstehe von Informationstechnologien und EDV, wenn ich Glyphosphat weder in den Handel gebracht noch es vertrieben habe, sondern in den 80er Jahren meinen Chef auf die Palme gebracht habe, weil ich mich geweigert habe es auszubringen, wenn ich keine Computerspiele mitentwickele und keine Apps produziere, dann kann ich sagen:  Ich bin es nicht gewesen. Ich blockiere weder die Seebrücke noch halte ich Migrant*innen davon ab die europäischen Grenzen zu überqueren. Ich arbeite in keinem Gefängnis und manage kein Flüchtlingslager. Und doch gibt es die Lager, es gibt zu viele Autos, Deutschland stellt Waffen her und vertreibt sie in alle Welt. Idiotische Computerspiele entstehen tagtäglich und mit den Ressourcen, die in den Wettbewerb und den Sport fließen, Fußball, Tennis, Golf, Baseball, Handball, könnten alle Menschen sicher gut genährt abends zu Bett gehen. Nur mal so dahingedacht: Wenn der ganze Kraftaufwand den Menschen im Sport erbringen und die ganze Nahrung, die zur Versorgung derjenigen, die Autos bauen in die Bestellung von Feldern, die Bewässerung und Pflege von landwirtschaftlich genutzten Flächen gehen würde, dann wäre die Menschheit sicherlich gut genährt und hätte ein Problem mit CO² Emissionen weniger. Aber, wie gesagt: Hinter mir stehen keine Mehrheiten.

Ich bin es nicht gewesen. Liebe Nachfahren. Ihr könnt mir Faulheit und Bequemlichkeit vorwerfen. Ihr könnt mir Opportunismus vorwerfen und die Tatsache, dass ich ein alter weißer Mann bin. Ihr könnt mir zu Last legen, dass ich einer Generation der Rundumgutversorgten angehöre und dass ich heute die Schicht von Leuten repräsentiere, die noch ein paar Jahre lang die gut bezahlten unbefristeten Arbeitsverträge besetzen. Aber, auch ich habe eine Jugend ohne Perspektive in Erinnerung, wo eine Generation von Babyboomern um Arbeitsplätze konkurrierte, die biedermeierliche Kohlära gerade die Macht übernahm und das Soziale wieder einen christlichen Touch erfuhr. Schmidt und RAF waren durchgestanden.  Atommafia und Kapitalismus pur. Also, hört mir auf mit Apokalypse und Endzeitstimmung. Für Afrikaner*innen steht die Zukunft noch bevor. Europa hat ein enormes Potential – also verschlaft es nicht. Gebt eure Kreativität und eure Freiheit nicht auf! Bewahrt das Gute und befreit euch von Altlasten, von Imperialismus und Kolonialismus, von autoritären Strukturen und lasst ab vom Kapitalismus alter Schule. Vielleicht bin ich dann doch nochmal mit dabei. Gerne würde ich das noch erleben. Und wenn Greta Thunberg dafür als Ikone herhalten muss und nun schon zur neuen Messia stilisiert wird, dann gesteht mir zu, dass ich da etwas skeptisch dreinblicke und vielleicht wieder nicht mit dabei gewesen sein werde. Mit Glauben habe ich es nicht so. Schön allerdings, zu sehen, dass sich Dinge bewegen und die Minderheiten meiner Jugend doch ganz langsam auch stärker werden – oder zumindest augenscheinlich mehr. Die Wirkung verblasst vielleicht vor dem Hintergrund der 5G Netze und Massenverblödung, der Elektromobilität und Smart-Homes. Und dann bin ich es doch wieder nicht gewesen.

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