Gegenwind

Die Städte sind wie leergefegt. Nordrhein-Westfalen macht Sommerpause. Die einen in der Karibik, die anderen am Mittelmeer. Nord-Italien erfreut sich in diesem Jahr großer Beliebtheit. Wer mit dem Auto oder dem Zug unterwegs ist, kann sich eine weite Reise wohl nicht mehr leisten. Die Lebenshaltungskosten steigen und schon bald wird auch Kerosin nicht mehr subventioniert. Und wenn dann Kantinen auf Bio machen und es in den Kitas kein Schweinefleisch mehr gibt, dann schließen sich die Gelbwesten und Bildzeitungs-Leser*innen mit Salvini zusammen und gehen dem urbanen Wohlstand an den Kragen und den Bildungsbürgern an die Gurgel. Nur in Jugendherbergen wird noch Aufschnitt serviert, auch wenn der Muckefuck inzwischen durch Fairtrade-Kaffee ersetzt worden ist. Niko Paech lehrt, wie wir uns dem Klimawandel zu stellen haben, doch leider sind wir schlechte Schüler*innen und an Vorbildern mangelt es uns fürchterlich. Ein bisschen OYA macht Mut und ermächtigt die Suchenden. Irgendwo draussen und nicht einmal in weiter Ferne formen sich Gemeinschaften und wagen den Schritt in die gewaltlose Kommunikation und den egalitären Kommunitarismus. Auch wenn sie weder Rawls gelesen noch Habermas verstanden haben. Ein Transparent hoch gehalten und ein markiger Spruch, der Instagram-tauglich ist, und am besten noch ein Youtube hochgeladen und eine beachtliche Zahl von Demonstrant*innen publiziert. Im Verein wächst die Überzeugung und werden Glückshormone produziert.

Urlaub einerseits, Flucht aus der bitteren Realität, wer so will, andererseits. Oder Vertreibung und Machtlosigkeit im Gegensatz zu Selbstherrlichkeit und Besitzstandswahrung.  Tausende Menschen sitzen in Bihać, an der Grenze zu Kroatien fest. Die Polizei hindert sie an der Weiterreise. Gegenwind. Jahrelang. Widerstand. Kein Vorankommen. Schmutz. Respektlosigkeit. Urlaubspläne. Fernreisen. Hotelbuchungen. Nur wer €1.000 bis €3.000 aufbringen kann wird den Schleuser mit den guten Kontakten zur Polizei bezahlen können. Wir machen eine Ausstellung davon. Ai Weiwei in Düsseldorf. Wir berichten: „Libyen öffnet die Migrationslager – Richtung Meer – viele werden unentdeckt ertrinken“ (TAZ, 6.8.2019). Wir appellieren an die Gefühle und tragen die Themen ins europäische Parlament. Aber da herrscht der Brexit. Klimanotstand. Greta Thunberg mit Gleichgesinnten sprachlos und gelangweilt in den Zentren der Macht. Wirtschaftskrieg mit China. Steigerung der Militärausgaben. Mit dem Roten Kreuz ist kein Geld zu verdienen. Der Börsencrash droht. So zu sehen an der Anstrengung mit der die Stock-Broker in ihre Bildschirme starren. Wo leben wir? In Ost oder in West? Wo die Natur langsam die Infrastruktur frisst oder wo G5 den Datentransfer noch beschleunigt und der Kohlebagger das Wasser abgräbt? Ist doch Einstellungssache. Ist doch nur deine persönliche Haltung. Ist deine Angst. Dein Unglauben und dein Gewissen. Ist nicht Realität. Die versuchen wir lediglich mit unseren bescheidenen Mitteln zu fassen. Sauber argumentiert und logisch aufbereitet. Das Schlimmste was wir den Kindern beibringen können sind Definitionen, scharf konturierte Begriffe, die nicht mehr wachsen wollen und sollen. Eine Politik, die Moral und Religion vollständig ausklammert, sorgt für ihre eigene Entzauberung.

Mag uns der Wohlfahrtsstaat mit vielerlei Rechten und Ansprüchen ausgestattet haben, so fühlen wir uns doch von der Welt überwältigt, wenn wir ihr allein mit unseren eigenen Ressourcen gegenüberstehen. Wie aber die Authentizität erhalten ohne anachronistich zu werden? Und für Wandel werben, der geistig-seelischen Entwicklung gerecht ohne Gefahr Atavismen zu verfallen. Clanstrukturen, Kleinstgemeinschaften, Autokratien, sind doch keine Antwort auf unsere gegenwärtigen Herausforderungen. Völkerwanderungen und Migration stellen die Grundlage unserer zukünftigen Gesellschaften dar. Glauben und Hoffnungen, Träume und Visionen sind Tropfen und Tränen im Meer eines zukünftigen Lebens auf diesem Planeten. Glück, Pech, Freude und Leiden sind nicht Zufall und unabänderlich. Es sind Folgen oder Wirkungen von Ursachen, die durch unsere Entwicklungen und damit durch unser Denken und Handeln bestimmt werden. Viele Teile formen das Ganze. Ein Puzzle. Ein Mosaik. Winde die uns bewegen, an den Fensterläden rütteln und uns um die Nase wehen.

Schikane für Seenotretter: Tanken verboten, anlegen erst recht. Was lässt sich da machen? Wie selbstgefällig muss ein Politiker sein, der den Rettern Haftstrafen und Geldstrafen androht? Mag ich auch nicht die Lösung zu bieten haben, das Geld schon gar nicht und auch die Autorität nicht – auch werde ich mich nicht heute auf den Weg machen ans Mittelmeer und als Helfer auf einem Schiff anwerben. Ich kann auch nicht alleine dafür sorgen, dass Flüchtlinge Wohnungen statt Container angeboten werden und Betreuung statt Widerstand, aber dafür aussprechen werde ich mich doch wohl dürfen für eine Kultur der Begegnung, der Bereitschaft aufeinander zuzugehen, der Wärme und des Schutzes. Die Kraft sollte genutzt werden. Ganze Landstriche wollen bevölkert werden. Die ländlichen Regionen brauchen Ideen und Arbeitskräfte. Gebt Land. Enteignet die Großgrundbesitzer. Ganze Erbengemeinschaften streiten um den Nachlass ihrer Vorfahren. Statt den Porschefahrenden Anwälten sollten wir das Erbe den Migranten überweisen. Und ich höre schon eure mehr hysterischen als warnenden Rufe: „Dann werden sie bald alle kommen und uns auf der Tasche liegen“. Na und!
Dem Gegenwind kann nur trotzen, wer ein klares Ziel hat und nicht aufgibt. Viele wird der Mut verlassen. Denn letztendlich wagt sich nur auf See, wer bereit ist zu ertrinken. Was  noch lange nicht heißt, dass wir sie alle ertrinken lassen dürfen. Denn wer sind wir denn? Dass wir den Wind bestimmen. Dem Willen kommt nun eine erweiterte menschenkundliche Bedeutung zu, weil er fähig ist, vergangenes und gegenwärtiges Karma zu befreien. Im Sommer sind die Strassen in NRW wie leergefegt. Die Menschen machen Urlaub. Die Zeitungen bleiben ungelesen. Das ist das Sommerloch. Es heißt, es würde nicht viel passieren. Doch – die Winde wehen.

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